AUSWÄRTSDINGS !!!

Und was für eins...

 

Rückblende: Gespräch zwischen dem Verfasser dieser Zeilen, Paddy und Gast Magda am 28.08.2010 während der samstäglichen Sky-Bundesligakonferenz im Eigelstein...

Paddy: „Morgen geht’s nach Leverkusen...“

Verfasser: „…gegen die wir seit ungefähr 20 Jahren nicht mehr gewonnen haben.“

Magda: „Wow.“

Paddy: „Verloren, unentschieden, verloren, unentschieden, verloren... Immer dasselbe.“

Verfasser: „Einmal zuhause sogar 2:8.“

Magda: „Ach du meine Güte!“

Verfasser: „Ich denke, da werden wir auch morgen wieder gepflegt den Hintern vollbekommen.“

Magda: „JA ABER WARUM FAHRT IHR DENN DA DANN ÜBERHAUPT HIN???“

 

Der perfekte Tag beginnt für mich etwa einundzwanzigeinhalb Stunden später, als ich – selbst mit dem Auto von Düsseldorf angereist – auf dem Bahnsteig in Leverkusen-Opladen die Aasee-Mönche-Delegation (Herbert, Marco, Michael, Helge und Paddy) aus Münster in Empfang nehme. Zu sechst geht’s ohne besondere Vorkommnisse per Pendelbus gen BayArena. Auf den Straßen zum Stadion tummeln sich zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche verwegene Borussen, die sich auch von sechzehn Jahren Sieglosigkeit in Leverkusen nicht beirren lassen. Gut so!

An der Stätte des Spektakels angekommen, durchschaut man sofort die Polizei-Taktik des Tages: Die Fans sollen durch gutaussehendes (weibliches) Personal abgelenkt und domestiziert werden. Und der Plan geht auf. Helge wäre plötzlich gern der Kaffee einer Blonden in Uniform. Und Paddy schwört umgehend jeglicher Gewalt ab: „So eine kann man doch nich schlagen!!“

Ab aufs Stadiongelände, dem Wesentlichen frönen – eine Bayer-Card kaufen. Die Nichtfahrer tanken ihr erstes scheinbar alkoholhaltiges Bier. Dann ist die Stadionwurst an der Reihe. Geschmacklos an sich, wird sie (nur scheinbar geschnitten) in Curry zum Gedicht. Da Helges Trikot der Vor-Vorsaison noch kein (Postbank-)gelb ziert, er aber modisch up to date sein möchte, saut er sich gepflegt mit Senf ein.

Endlich im Block. Zuletzt hatte man den im Januar bei (offiziell) minus elf Grad Celsius betreten. Mit Dante-Perücke. Die Bilder waren um die Welt gegangen und die eigene Visage damals in allen Spielberichten (außer denen des eh überflüssigen Sportstudios) zu sehen. Zudem hatte Borussia ein gutes Spiel gezeigt, zwischenzeitlich sogar mit 2:1 geführt, aber dann natürlich doch noch verloren. Angesichts der mit Ober-Sympathikus Ballack verstärkten Bayer-Elf sind die Erwartungen des aus Borussensicht traditionell enttäuschenden BuLi-Duells auch diesmal (noch) mehr als gering. Paddy zu Helge: „Und, was tippste?“ Helge: „Dreinull.“ Paddy (ebenso entrüstet wie verwegen): „Nee Mann, ich willn Tor sehn!“ Helge: „Gut, dann vier zu eins.“ Paddy (begeistert): „DAS ist die richtige Einstellung!!“

Vor dem Spiel das übliche Geplänkel, nur halt auf Plastik. In der schmucken, noch halbneuen Arena mit gutem Blick aufs nahe Spielfeld stehen die Heim-Freikarteninhaber, anderswo Fans genannt, in der Kurve. Wahrscheinlich, um den Sitz-Freikarteninhabern nicht den guten Blick aus der Geraden zu klauen. Eine zweite Hintertortribüne gibt’s in diesem „Stadion“ erst gar nicht! Aber die würde ja auch viel zu viel Platz für die V.I.P.-Freikarteninhaber wegnehmen. Einzigartig – zum Glück.

Beim Abspielen des gähnend langweiligen Vereinsliedes – sorry – Fußballabteilungs-Promosongs läuft auf der Anzeigetafel der Text mit und färbt sich an der aktuell zu trällernden Stelle rot. Wie bei Singstar oder Karaoke-Maschinen, nur dass hier (trotzdem) keiner mitsingt. Dennoch zeigt sich bereits zu diesem Zeitpunkt, mit welch von sich eingenommenen Gastgebern man es heute zutun hat. So wird „Le-ver-KUUUUUU-sen“ in dem Song doch tatsächlich zur „Macht am Rhein“ erhoben! Angesichts so erlesener Nachbarschaft wie Mönchengladbach oder auch f***ing Cologne eine ziemliche Dreistigkeit, bemerke ich. „Tja, aber sie stehn nun mal oben!“ meint Paddy. Und hat recht. Ich finde seine Bemerkung trotzdem unangebracht.

Anpfiff. Und Gladbach spielt mit! Satte 100 Prozent Ballbesitz bis zur zweiten Minute beeindrucken Gästekurve und Gegner gleichermaßen. Es entwickelt sich eine Partie auf Augenhöhe. Sehr zufriedenstellend – weil so nicht erwartet. Zum Glück ist Matmour erkrankt, daher macht Reus einen auf „hängende Spitze“, und Fohlen Hermann rückte auf rechts in die Anfangself. Gladbachs Fans machen Stimmung. Zum Aufstehen aufgefordert, erhebt sich ein knappes Stadiondrittel – und damit die Gesamtsumme aller zahlenden Zuschauer.

Chance durch Kießling. Gehalten. Und auch die Gäste zeigen sich vorne – zum Beispiel durch Hermann in der 20. Minute. Seine hohe Flanke ist zu lang. Doch Idrissou holt sich die Pille gleich zweimal gegen Bayers Traumtänzer Vidal zurück, zieht von links in die Box, schaut und passt vor die Kiste – wo der heransprintende Hermann trocken unters Tordach einnetzt. Einsnull! Kein Halten mehr im Block.

Etwa vier Minuten später: Ecke für Bayer vor „unserer“ Kurve. Abgewehrt. Aber keiner vorm Strafraum, sodass Castro den „zweiten Ball“ (mal wieder) locker aus dem Halbfeld reinflankt. Kopfball Derdiyok ins lange Eck, Ausgleich. Verdient oder nicht – was folgt, ist bezeichnend. Der Schweizer trabt aufreizend lässig in Richtung Gästeblock, grinsend – und den Zeigefinger auf den Lippen. Aus der Provokation des gerade 22-jährigen Jungmillionärs spricht die pure Arroganz. Unsportliches Verhalten? Gelb dafür? Um Himmels Willen. Das gibt’s höchstens für Dankesbotschaften auf Untershirts oder ausgelassene Feierei am Zaun mit den eigenen Fans. So sehr mich Derdiyoks Auftritt auch ankotzt – überrascht bin ich nicht. Vor etwas über einem Jahr verhielt sich sein damals gleichaltriger Teamkollege Castro nach dessen Treffer zum 3:0 gegen Gladbach in Düsseldorf ganz genauso. Und so hoffe ich wie damals auch heute inbrünstig, bloß keinen dieser widerlichen Drecksäcke jemals im Gladbachtrikot erleben zu müssen.

Zum Glück gibt unser Team die einzig richtige Antwort auf dem Platz. Sie spielt trotz eines anschließenden Kießling-Kopfballs an die Latte, der – etwas tiefer angesetzt – diesen Nachmittag zu einem völlig anderen hätte machen können, weiter nach vorne. Hier ist heute was drin! Nach zwei Großchancen von Bradley und Reus innerhalb von 30 Sekunden präsentiere ich Paddy meine Gänsehaut. „Noch vor der Pause erneut in Führung gehen, das wär’s...!“ Nahezu im selben Moment versenkt Brouwers Adlers Abpraller zum 2:1. GEIL!!!!!!! Als Hermann wiederum nur vier Minuten später den Ball wie beim Tippkick aus dem Stand mit dem Außenrist lang in den linken Winkel ballert, glaub ich endgültig, ich träume. Ein Wahnsinnstor. Die schallende Ohrfeige eines Neunzehnjährigen für ganz Leverkusen. Nun – unerklärlich spät – hat auch Paddy Gänsehaut.

Pause. Denkt hier im Block oder irgendwo anders einer NICHT an das erste Auswärtsspiel der letzten Saison in Bochum??

Wiederanpfiff. „Wir bräuchten ein viertes Tor.“ Dann wär ich (vielleicht) entspannter. Wie an beinahe jedem Spieltag sind auch heute Bewegungsdrang, Zweikampfverhalten und Lebenseinstellung des Kollegen Arango ein vieldiskutiertes Thema. In der Sechsundfünfzigsten tritt Borussias Oberschleicher unmittelbar vor den eigenen Fans zum Freistoß an. Torentfernung etwa 25 Meter, halbrechte Position. Das kanner!! Ich versuche nachzuhelfen: „Ey wenner den jetzt reinmacht, sag ich NIE wieder was Schlechtes über Arango!!“ Paddy (unentschlossen): „Hmmmmjaaaa... Echt...? Naja, geil wär’s ja...“ Er reicht mir die Hand. „DEAL!“ „El Hurrican” läuft an, und sein Schuss mit links rauscht unhaltbar für Bayers wunderschön, aber vergeblich fliegenden Adler rechts oben rein. Wir sind fassungslos. Heute scheint alles zu klappen! Vor der Kurve wird Strahlemann Arango unter einem Haufen jubelnder Mitspieler begraben. Neben mir verschwindet Marco zum wiederholten Mal mit irrem Gesichtsausdruck im kollektiven Freudentaumel.

Drops gelutscht? Von wegen. Gladbach wäre nicht Gladbach, wenn ihm nicht wie keinem zweiten Team (bis vielleicht auf Bremen international) daran gelegen wäre, Spannung dauerhaft aufrecht zu erhalten. Wir kennen das. Wir haben dafür bezahlt. Und werden auch am heutigen Tag nicht enttäuscht. Nur zwei Minuten später lässt sich Muster-Schwiegersohn Marx auf dem Weg in den gegenüberliegenden Strafraum auf ein Tänzchen mit Bayers Chef-Balletteuse Vidal ein, das dieser ebenso zügig wie erwartungsgemäß am Boden beendet. Dass uns Thorben den Südamerikaner noch Zentimeter vor der Box touchiert, kratzt Schiri Stark nicht die Bohne – Elfmeter. Nur noch 2:4. Typisch Gladbach, wenn auch mit Pech.

60. Minute. Irgendwo im Mittelfeld (!) trifft Levels auf Bayers desorientierten Innenverteidiger Hyypiä, gerät ins Straucheln und zieht – halb krabbelnd – an ihm vorbei. Herzallerliebst! Kaum wieder auf den Beinen, chippt Edeltechniker Tobi das Leder zuckersüß auf Reus. Lange Flanke nach innen, Volleyschuss Arango, Adler kann wieder nicht festhalten, Idrissou schnallt’s am schnellsten – T O R !!!! Was bitte ist hier denn los?? Während Mo nach gegenüber abdreht, tackeln sich vor Gladbachs Bank Heimchen und Frontzeck voll überbordender Männlichkeit Brust gegen Brust. Levels dagegen weiß nicht so ganz wohin mit sich, sprintet in die Kurve und beendet seinen Ausbruch wild-emotionaler Zuckungen mit einem Tritt in die Sky-Bande. 5:2! Gladbach ist dem Wahnsinn nahe.

Nun muss Ballack raus. In der ersten Hälfte hatte er wenigstens einen Zweikampf gewonnen. Immerhin. Unser Block versteigt sich in einen minutenlangen, später im TV deutlich zu hörenden VfL-Wechselgesang mit dem Oberrang. Ein Blick dorthin verrät: Auch Mönch Herbert ist voll in seinem Element. Anfangs bemühen sich die Freikarteninhaber in der Kurve gegenüber noch, uns jedes zweite Mal durch nicht jugendfreies Dagegenhalten zu entmutigen, bevor sie konsterniert in beeindrucktes Schweigen verfallen. Übermütig remple ich Paddy an und schreie: „Das ziehn wir jetzt durch bis zum sechsten Tor!!“ Offenbar hat auch Reus dies vernommen, nimmt Arangos Pass auf, zieht an und versenkt die Kugel im langen Eck. Unfassbar. Nun scheinen wirklich alle Feldspieler vorm Block versammelt – und ihre Gesichter sprechen Bände.

Lediglich Bailly hält es im eigenen Kasten und überlegt in aller Ruhe, wie er diese Partie trotz allem weiter offen halten kann. Schnell hat er eine Lösung gefunden: Die nächste, nur eine Minute später in den Gladbacher Strafraum segelnde Halbfeldflanke wischt er einfach direkt Herrn Kießling vor die Füße – 3:6. Und noch immer 20 Minuten zu spielen. Hier und heute ist wirklich alles möglich. Daher bin ich weiter nervös. Dass Paddy neben mir die Ruhe selbst ist, macht vieles leichter.

Doch es passiert tatsächlich nichts mehr. Feierabend!! Jubeln. Durchatmen. Realisieren. Einfach traumhaft: Nach 26 sieglosen Matches gegen Bayer in Folge trifft Gladbach in Leverkusen sechsmal – so oft wie keine andere Mannschaft zuvor. Und wir warn dabei.

Als die Ausgänge dicht gemacht werden, verlassen auch wir den Block. Selig. Unten treffen wir auf Caki. Er ist sternhagelvoll. Zu recht!! Als wir die Haltestelle erreichen, sind erwartungsgemäß bereits alle Pendelbusse nach Opladen weg. Laut Fahrplan steht uns eine Stunde Wartezeit auf die nächste Linie bevor. Deren Überbrückung scheint heute leicht – zumal allein Caki zwischen jedem seiner Worte eine Pause von mindestens drei Minuten einstreut. Während ich noch berechne, wie viele hochspannende Sätze er so bis 18:53 Uhr wohl noch zusammenkriegen wird, passiert (schon wieder) Unglaubliches. „Ihr wollt nach Opladen?“ fragt ein plötzlich auftauchender Verkehrsregler in Warnweste. „Jawoll!“ Daraufhin hält der Mann uns einen Bus an: „Harald! Fährst du die Jungs nach Opladen?“ Wir sind Baff. Ein ganzer Gelenkbus für 20 ausgelassene Dreipunkteklauer! Und Harry fährt gar Sonderstrecke! Ohne jeglichen Stau!! Man müsste eine Steigerung von „perfekt“ erfinden, um diesen Tag zu beschreiben.

Später reisen fünf von uns zurück nach Münster – natürlich erster Klasse. Im TV spricht man vollkommen zu recht von einem „denkwürdigen, überragenden“ Bundesligaspiel. „Bezaubernde Gladbacher“ titelt der kicker: „Es war ein Offensivfeuerwerk, ein Torspektakel, unwiderstehlicher ‚Fohlen’-Fußball, der in seiner Vehemenz an die glorreichen 70er-Jahre erinnerte. Was die Borussia in Leverkusen auf den Platz zauberte, war schlichtweg atemberaubend. Ein Sturmwirbel von Patrick Herrmann, Marco Reus, Mohamadou Idrissou und Co. zerlegte Bayer in seine Einzelteile.“ Leverkusens Innenverteidiger Reinartz und Hyypiä erhalten eine glatte sechs. Dafür stehen bei comunio gleich fünf Gladbacher als Notenbeste in der Elf des Spieltages. Während ich mich frage, ob ich die Worte „Mönchengladbach“, „Auswärtssieg“ und „hoch“ überhaupt schon irgendwann mal in einem Satz gehört habe... [was wohl 1987 nach nem 7:1 in Bremen der Fall gewesen ist.]

Zwei Wochen Länderspielpause müssen reichen, um die Nachwirkungen dieses historischen Triumphs zu genießen. Zu nichts anderem werde ich sie nutzen.

 

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