Samstag, 17.05.2003.

 

Gladbachs letztes Auswärtsspiel der Saison. Endlich ist sie da, die reale Chance, den Klassenerhalt perfekt zu machen. Es käme einer Erlösung gleich. In Scharen strömen Borussenfans gen Hannover. Hinter ihnen liegt eine nervenaufreibende Saison, die sich um einiges anstrengender darstellte als die vorangegangene nach dem glorreichen Wiederaufstieg des VfL. Borussia 2003, das hieß vor allem Heimstärke – packende Fights gegen Bayern, Dortmund und Leverkusen, rauschende Feste gegen Bielefeld und Rostock. Das hieß aber vor allem auch fast unheimliches Verletzungspech, Schlammschlachten, Suspendierungen, Trainerwechsel und Auswärtspleiten am laufenden Band. Und doch ist all das ist heute wie weggewischt, kein Thema mehr. Stattdessen Optimismus pur – Endspielstimmung. Die wahrscheinlich vorentscheidenden Punkte 39, 40 und 41 erscheinen zum Greifen nah. Schnell noch mal an der Bierflasche genippt, bevor’s raus geht in Richtung Stadion - sollte das heute wirklich klappen?

Der Bus öffnet seine Türen und wir stolpern ins Freie. Angeheitert, unterschwellig nervös. Das Wetter ist gut, dafür enttäuscht bereits der erste Blick ins trostlose (sowieso ungeliebte Halb-)Rund der Baustelle „AWD-Arena“. Abspeichern unter „unwürdige äußere Bedingungen“, weiter zum Bratwurststand. Der positive Eindruck hier fällt dem ersten Schluck Gilde-Pils zum Opfer. Bier schmeckt anders. Dann der vorläufige Höhepunkt: Die Ladies müssen mal. Leider dürfen sie nicht. Damentoiletten? Fehlanzeige. Nur in Richtung Haupttribüne gibt’s angeblich welche. Alles klar, nur kommt man da aus diesem Bereich des Stadions nicht hin. Herzlichen Glückwunsch. Beim unfreiwilligen Besuch der obligatorisch versifften Herrenkloaken vergeht ihnen vorläufig jede Lust auf Fußball. WO IST DIESER LÄCHERLICHE STADION-INSPEKTOR DER SPORT-BILD, WENN MAN IHN BRAUCHT??

Wir betreten den Stadion-Innenraum. Natürlich reichen die zwei Blocks, die man hier für die Gästefans eingeplant hat, nicht aus. So muss sich ein Großteil der Mitgereisten unters Heimpublikum mischen. Sicherlich ein Grund für die angespannte Atmosphäre. Ein anderer dürfte das ebenso imposante wie unangenehme Polizeiaufgebot sein. Uniformen, soweit das Auge reicht. Was soll’s. Wenigstens tragen die Jungs und Mädels unsere Farben. Das in grellgelb gekleidete heimische Ordnungspersonal nervt dagegen tierisch. Hoffnungslos sein Unterfangen, jeden einzelnen Zuschauer zu überreden, das Sitzplatzangebot auch wahrzunehmen. Endlose Diskussionen ohne Sinn. Ein Blick über die Schulter bestätigt: Hier stehen sowieso fast alle. Also auch ich. Beleidigt zieht man ab. Und kommt wieder – mit der Polizei! Wenn’s nicht so traurig wäre, hätte ich gerne herzhaft gelacht. Ähnlich geht’s den Grünen. „Wie bitte? Verhaften? Wofür denn? Solange hier keiner irgendwas wirft oder so, können wir gar nichts machen.“ Vielleicht hätte das Stadionpersonal mal die eigene Hausordnung studieren sollen. Vielleicht gibt’s in Hannover gar keine solche. Vielleicht kann das Stadionpersonal in Hannover gar nicht lesen! Wie auch immer. Verärgert stapft der Trupp von dannen. Des lieben Frieden willens setzen wir uns vorübergehend und versuchen, uns endlich auf das Spiel zu konzentrieren, das bereits seit einigen Minuten läuft.

Bis jetzt ist nichts passiert – zumindest, soweit wir das verfolgen konnten. Hannover drückt. Miklu rempelt. Freistoß. Wie meinte ich noch auf der Hinfahrt? „Besonders ärgerlich wär’s, wenn wir hinten gut stehen und dann von Krupnikovic so’n blödes Freistoß-Ding verbraten kriegen.“ Krupnikovic schießt. Tor. Na klasse. Jetzt bleiben wir freiwillig sitzen. Erstmal das Geschehene verarbeiten. Innerhalb der letzten halben Stunde fiel die Stimmung dann doch ziemlich rapide in den Keller. Leverkusen führt 2:0, das macht die Sache nicht einfacher. Bis zur Pause passiert kaum noch was. Genug Zeit zum Nachdenken...

Die viertelstündige Spielunterbrechung erscheint wieder mal endlos lang (noch mehr Zeit zum Grübeln). Ich gehe kurz raus und wieder rein. Ein Spießrutenlauf. Mir graut’s bereits jetzt vor dem Schlusspfiff. Die zweite Hälfte hat kaum begonnen, da fällt in Leverkusen das 3:0. Wir sehen weiterhin Tristesse, im Nacken die immer gleichen Hannoveraner Fangesänge. In mir ist mittlerweile das letzte Fünkchen Zuversicht wie weggeblasen. Beklommenheit überfällt mich. Ich fühle mich machtlos, kann mich nicht befreien. Etwas huscht an meinem inneren Auge vorbei. Das Abstiegsgespenst? Quatsch, das sitzt doch bei Calmund im Kühlschrank...

TOOOOOR!!! Mitten in meine kranken Gedankengänge hinein köpft Forssell den Ausgleich. Beim Jubelpogo über die Sitzschalen breche ich mir fast die Beine. Nur langsam kehrt wieder Ordnung ein. Jetzt ist wieder Stimmung in der Bude. Nur bei mir irgendwie nicht. Die bleierne Schwere meiner Gliedmaßen bleibt. Ich bin verwirrt. Welche Auswirkungen hat das jetzt auf die Tabelle? Ich frage nach. Paule: „Pass mal auf, wir machen gleich noch einen!“ Diese Antwort hilft mir wenig, also grüble ich weiter. Das Spiel verfolge ich nur am Rande. Ascho am Ball, wenig Gefahr also. Denkste. Tor. 2:1. Was war das denn? Torwart Tremmel schaut ebenso ungläubig drein wie Schütze Asanin, bevor der unter seinen Mitspielern begraben wird. Ähnlich geht’s mir. Ich muss mich setzen, habe Tränen in den Augen. Jetzt reicht’s also wieder. Jetzt sind wir doch genau da, wo wir hin wollten. Paule klopft mir auf die Schulter: „Siehste, ich hab’s doch gesagt.“ Ach ja, richtig. Meiner Meinung nach hätten wir das aber auch einfacher haben können. Ich telefoniere und maile. Langsam kehrt Leben in mich zurück. Noch fünf Minuten. Gut das bald alles vorbei ist. Ich atme tief durch und richte mich auf, um den Rest der Begegnung zu verfolgen. Hinter uns ist es jetzt still geworden. Die Gästefans feiern. Vor den Blöcken postiert sich die Polizei, um einer Erstürmung des Platzes vorzubeugen. Auf dem Rasen passiert wieder weniger. Hannover scheint fertig zu haben. Mann, wie das dauert. Endlich, die neunzig Minuten sind rum. Noch 2 Minuten nachspielen, ok. Die kriegen wir auch noch rum. Oder??

Langer Abschlag von Stiel. Forssell startet. Tremmel auch. Er ist eher am Ball, senst ihn unkontrolliert weit nach vorne. Dort ein Wettrennen. Bange Sekunden. Weder Asanin noch Strasser können klären. Stattdessen kommt Staijner zum Schuss. Stiels Reaktion erinnert an den Fall einer Bahnschranke. Kette rutscht noch auf dem Hosenboden durchs Bild, doch der Ball kullert ungehindert über die Linie. Das Stadion wird zum Tollhaus. Ich sacke zusammen. Das gibt’s doch nicht. Das Spiel ist zuende, um uns herum feiert Hannover den Klassenerhalt. Nach all dem, was heute Nachmittag passiert ist, herrscht in mir nun vollkommene Leere. Ich will nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Wie in Trance bahnen wir uns den Weg durch die Massen nach draußen. Meine Befürchtungen bestätigen sich leider. Auf unserem Weg werden wir vom heimischen Publikum ausgiebig beworfen und bespuckt. So macht man das halt in Hannover. Was für ein niveauvoller Abgang.

Außerhalb des Stadions lasse ich mir telefonisch die Tabellensituation erläutern. Vor dem Bus sinke ich aufs Gras und schließe die Augen. Jetzt haben wir also den Salat. Ein echtes Endspiel gegen Uefa-Cup-ambitionierte Bremer, das keiner wollte. Von Bielefeld unterscheidet uns nur die bessere Tordifferenz. Mal durchrechnen. Was passiert, wenn...? Bielefeld braucht mindestens fünf Tore. Wir haben mehr geschossen. Und wenn wir jetzt 0:1 verlieren und Bielefeld gegen Hannover (für die’s ja um nichts mehr geht) 4:0 gewinnt? Moment mal. Wir haben die Arminia doch zuhause 3:0 weggeputzt. Und auswärts? Ach ja, 1:4. Ich erinnere mich.. Greift da die Auswärtstorregelung? Dann könnte van Houdts Knaller Gold wert gewesen sein. Oder gibt’s gar ein Entscheidungsspiel? Oh Mann, das ist zuviel für mich.

Etwa eine halbe Stunde später sitzen wir ein wenig entspannter im Bus und schlürfen Pilsbier (oder welches Gesöff auch immer). Stimmung und Zuversicht sind zurückgekehrt. So leicht lassen wir uns dann doch nicht aus der Bahn werfen, und schon gar nicht von Hannover. Nächste Woche spielen wir ZUHAUSE. Und dort sind wir bekanntlich eine Macht. Da kann kommen, wer wolle. Bremen – wer ist das schon? In Münster wartet das Hafenfest. Eine willkommene Gelegenheit, auch die letzten Sorgen noch mit ein paar Bier wegzuschwemmen. Die Operation verläuft erfolgreich.

Die anschließende Woche allerdings wird hart. Alles redet vom Abstiegsendspurt. Alles redet von Leverkusen. Das nervt. Ich kann den dicken Calmund nicht mehr sehen (er sich selbst wahrscheinlich auch nicht). Die Medien liefern pausenlos Unterstellungen, Mutmaßungen, Weissagungen. Und die Gewissheit, dass im Vergleich Bielefeld-Gladbach die Auswärtstorregelung tatsächlich greift. Beruhigt bin ich deshalb noch lange nicht. Konzentrations- und Schlafstörungen prägen Tage voller Rastlosigkeit und Nervosität. Wir haben’s doch selbst in der Hand, rede nicht nur ich mir immer wieder ein. Dann ist endlich Wochenende. Ein Segen.

 

T.H.

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